Werkbrief
Werk und Rau
Der Werkbund erfindet sich neu. Dabei sind die neue Webseite und der neue Werkbrief nur die formalen Äusserungen. Im Zentrum der Neuausrichtung geht es um Inhalte, Wirkungsweisen und Ziele für die der Werkbrief Plattform sein wird. Er soll ein Ort der Auseinandersetzung, des Dialogs und des Verständnisses sein und Raum für Meinungsvielfalt bieten.
Milo Rau, der 1977 in Bern geborene Regisseur, Theaterautor, Essayist und Wissenschaftler inszeniert «Orestes in Mossul» in Mossul und später am Schauspielhaus Zürich. Aus der Inszenierung geht die Initiative zu einem Filmschulprojekt in Zusammenarbeit mit dem Institute of Fine Art in Mossul hervor. Er inszeniert den Film «Das neue Evangelium» und darauf aufbauend wird von den Geflüchteten eine neue, selbstverwaltete Tomaten-Produkte-Linie lanciert.
Milo Raus Arbeiten lassen einen anderen Werkbegriff erahnen als den, der traditionell das kulturelle Schaffen prägt. In einem Gespräch durfte ich mit Milo Rau diskutieren und versuche nun, für den Werkbund die Diskussionsbasis eines Werkbegriffs zu legen.
Eine der Stärken und Schwerpunkte des Werkbundes ist seine Transdisziplinarität, die Vielfalt seiner Mitglieder und ihrer Aktivitäten sowie der Dialog. Daher beschäftigt mich die Frage, wie Milo Raus Werkbegriff auch auf andere Disziplinen übertragen werden kann und wie gemeinsame Schnittmengen gefunden werden können. Könnte diese Art der Herangehensweise auch eine für den Werkbund sein?
Milo Rau hat mit seinen «Tribunalen» in Zürich und Moskau sowie dem «Kongo Tribunal» in Bukavu und später Berlin das Theater in die unmittelbare und aktuelle gesellschaftliche Realität gebracht. Sein Schaffen zeichnet sich dadurch aus, dass zwar «Kunsträumen» als Basis und Ausgangspunkt der Arbeiten genutzt werden, Werk und Wirken jedoch unmittelbar ins tägliche Leben, in die wirtschaftlichen und politischen Um- und Missstände greifen. Die Ethik der Werke (erfreulicherweise sind moralische Fingerzeige und Anleitungen nicht anzutreffen) zielt darauf ab, die Menschen wieder zu Handelnden in ihrer Geschichte werden zu lassen und gibt ihnen so die Kraft, ihre Würde zurückzuerlangen. Hierzu möchte ich drei kurze Beschreibungen von Werkkomplexen Milo Raus für Neulinge geben:
«Orestes in Mossul»
Im Schauspielhaus Zürich inszenierte Rau «Orestes in Mossul». Im Mittelpunkt stehen zu Beginn die Taten des IS im Irak, der Schmerz und das Entsetzen der Bevölkerung, der Opfer und der Hinterbliebenen. «Orestes in Mossul» handelt vom Durchbrechen der Spirale aus Gewalt und Rache. Wie die «Orestiel» von Aischylos handelt «Orestes in Mossul» vom Verzeihen. Die Mitwirkenden erzählen ihre Geschichten – ihre schmerzhaften, scham- und schuldbeladenen Geschichten. Diese zu erzählen eröffnet ihnen, sich selber näher zu kommen. Auf der Bühne geschieht dies mit einer begrenzten Anzahl Direktbetroffener und Mitwirkenden. Es gibt viele weitere Geschichten, viele weitere Menschen, die ihre Geschichten erzählen wollen und müssen, um wieder Selbstbestimmung zu erfahren und in Würde weiterleben zu können. So entsteht die Filmschule als Ort des persönlichen Geschichtenerzählens – mit einer rudimentären Ausrüstung zum Filmen in zerstörten Räumlichkeiten in einer vom Krieg zerstörten Stadt. Diese Schule musste etabliert und der Auftrag, die Geschichten zu sammeln, gewürdigt werden. Es wurde eine, wie Milo Rau es ausdrückt, «absurd aufwändige Gesuchsflut» ausgelöst – absurd angesichts der geforderten Summen. Aber letztlich war die Schule da! Die UNESCO finanzierte sie und zeichnete sie damit als relevante kulturelle Institution aus und würdigte die Menschen, die an dieser Schule ihre Geschichten filmisch festhalten.
«The New Gospel»
«The New Gospel» oder «Das Neue Evangelium» wurde verfilmt. Gedreht wurde in der Stadt Matera in der süditalienischen Region Basilikata mit professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern sowie Geflüchteten, die in Plastikdörfern leben und für die Mafia zu einem Hungerlohn Tomaten pflücken. «Das Neue Evangelium» ist auch die Tomatenproduktmarke «NoCap», die ohne Sklavenarbeit produziert und die Geflüchteten in der Basilikata unterstützt, die ihre Würde bewahren wollen.
Die Suche nach einem Werkbegriff
Bei Milo Rau ist ein Werk nicht auf eine präzise Produktion beschränkt. Kunst und Kultur breiten sich in dessen Wirken aus, das im täglichen Leben verankert ist und dort weitere Kreise zieht. Es wird etwas geschaffen, das ein Eigenleben entwickelt, sich entfaltet und verselbständigt.
Erschütterungen aus der Auseinandersetzung mit Milo Rau und seinem Werk
Nach dem Gespräch mit Milo Rau und der Lektüre seiner Poetik-Vorlesungen und seinem Buch «Was Theater kann» stelle ich meinen Werkbegriff grundlegend infrage, um ihn zu erweitern. Die Gedanken und Assoziationen, die der Austausch mit Milo Rau hervorrufen, stehen nicht nur im Zusammenhang mit dem Transformationsprozess des Schweizerischen Werkbundes. Sie rütteln an mir als Mensch, als am Wirken und Leben beteiligter Bürger und Künstler. Sie fordern ein Selbstverständnis von Sein, Denken und Handeln.
Das Zelebrieren der isolierten Form und das kontextlose Betrachten gestalterischen Schaffens stehen im Gegensatz zur Grundhaltung Milo Raus. Positiv formuliert bedeutet dies eine Kontextualisierung des Schaffens – hin zu einem Werk, das gesellschaftlich, politisch, ethisch und wirtschaftlich wirksam ist.
Aus dem Gespräch mit Milo Rau kristallisieren sich Parameter heraus, die ich in Form eines Werkbund-Manifests festhalten möchte; ein Beitrag zum Werkbund-Gedanken, den ich persönlich leben und fördern möchte und der den Werkbund auf neue Ebenen des Denkens und Handelns heben kann.
Ich danke Milo Rau für das Gespräch, für den Mut und die Hartnäckigkeit und für die Inspiration, die sein Schaffen auslöst.
Versuch eines Werkbund-Manifests
Bevor ein Mensch irgendeine Funktion im Gesamten übernimmt, muss er als Mensch Würde, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung entwickeln.
Die Selbstzweckformel von Immanuel Kant steht dieser Haltung Pate: «Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchst.»
Ethik und nicht Moral liegen unserem Denken und Tun zugrunde.
Während Moral von aussen Regeln durchsetzen will, ist Ethik das persönliche, selbstverantwortete Regelwerk, an dem wir unser persönliches Handeln messen. Wittgenstein formulierte die Ethik als das, was, wenn es benannt wird, verschwindet. Oder, im schlimmsten Fall, zu Moral wird und sich also anderen aufdrängen will.
Ohne an den Glaubenssätzen zu rütteln, denen sich unsere Gesellschaft unterwirft, betreiben wir Kosmetik.
Freiheit verlangt Verantwortung für unser Handeln. Ein Wert lässt sich nicht immer in einen Betrag umrechnen. Natürlich werden wir Widerstand auslösen, Unverständnis und Ablehnung von Märkten und Disziplinen erfahren. Das gehört dazu, wenn man Grundsätzliches infrage stellt.
Transdisziplinarität bedeutet Respekt vor den Disziplinen und das Zubilligen gegenseitiger Lernfähigkeit.
In einer einzelnen Disziplin kann nichts entstehen, das in verschiedenen Lebenswelten wirken soll. Wirkliche Nachhaltigkeit ist immer transdisziplinär, zieht Kreise über das eigentliche Werk hinaus.
Die grossen Namen der Vergangenheit sind die Schultern, auf denen wir stehen.
Es ist schön und ein wertvolles Fundament, grosse Namen im Vorstand, in der Geschäftsstelle und unter den Mitgliedern gehabt zu haben. Die grösste Ehre für jemanden ist es, wenn er dazu inspiriert, übertroffen zu werden. Reines Zitieren ist Folklore.
Diese Auflistung ist meine persönliche. Sie ist als Diskussionsgrundlage zu verstehen und möchte dazu inspirieren, neues Handeln daraus zu entwickeln.