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2/24 – Sauerkraut, eine Wand und überlagerte Orte

Sauerkraut, eine Wand und überlagerte Orte

Renata Burckhardt ist Bühnenautorin, Kolumnistin bei NZZ Bellevue und Dozentin für Kunst, Literatur und Theater. Sie leitet Schreibworkshops an unterschiedlichen Theater- und Literaturinstitutionen und erhielt unterschiedliche Literaturpreise, zuletzt 2023 ein Werkjahr der Stadt Zürich. 2021 erschien ihre Novelle ALMA beim Kunst-und Architekturverlag «aboutbooks». Seit 2024 ist sie Werkbundmitglied.

Werkbrief 2/24, 02.09.2024, Text: Renata Burckhardt
Fotografie: Anne Morgenstern

An einem Dienstag mitten im Sommer, als ich soeben die Rollläden runtersausen liess, um die Wohnung von der flirrenden Hitze abzuschirmen, habe ich plötzlich verstanden, dass mich die Wörter «Interdisziplinarität», «Transdisziplinarität» und «Multidisziplinarität» immer schon irritiert haben. Kurz zurückgespult: Als ich ein Teenager war, legte mir meine Mama einen Zeitungsartikel vor die Türe. «Lies das bei Gelegenheit.» Darin erzählt ein Arbeitspsychologe von den Herausforderungen, vor denen Menschen mit Mehrfachinteressen stehen können. Natürlich ärgerte ich mich damals über das mütterliche Mitdenken – wie sich das für einen Teenager gehört. Den Artikel aber habe ich heute noch. Und merke einmal mehr, dass Mütter recht haben. Kann man sich NICHT für unterschiedliche Disziplinen, Sichtweisen, Methoden, Kenntnissen, Denkweisen interessieren? Geschieht das nicht automatisch?

Bild: Renata Burckhardt

Jedenfalls bin ich offensichtlich keine Spezialistin, habe mich aber lange damit geplagt, eine werden wollen zu müssen. Während meiner Ausbildung an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel habe ich während der Projektarbeiten hauptsächlich geschrieben und die Gedanken erst am Ende des Prozesses in Material umgesetzt. In den Ausstellungen zeigte ich keine Malereien, Videos oder Tiefdrucke, sondern installierte quer durch eine riesige Industriehalle hohe Rohrpfosten für Verkehrsschilder oder montierte im öffentlichen Raum grosse Zylinder, die man sich per Flaschenzug überstülpte, um abgeschottet einem Text und Konkreter Musik zu lauschen. Die Dozenten sagten: «Dasch scho e weneli eige.» Kaum hatte ich jedoch meine ersten Stücke fürs Theater geschrieben, hörte ich wiederum, mein Schreiben sei ungewöhnlich visuell, und im Verlauf meines ersten Förderungsstipendiums für Junge Dramatiker/-innen meinte der leitende Dramaturg: «Willst du nun Autorin, Regisseurin oder Bildende Künstlerin werden?» Als ich später den Master of Advanced Studies in Curating machte, konstatierte ein Kollege: «Du denkst nicht kuratorisch, sondern räumlich», und für die damals realisierte Ausstellung inszenierte ich eine halbstündige Szene mit zwei SchauspielerInnen. An einem Stadttheater in Deutschland wiederum kritisierte ein Dramaturg eine meiner Inszenierungen wie folgt: «Du machst Theater und verweigerst das Theatrale.» Der Schauspieler damals aber nickte mir zu und raunte: «Das ist doch eben gut.» Das vergesse ich ihm nie. Dennoch stammelte ich auch da, zum hundertsten Mal, irgendeine Entschuldigung.

Bild: Renata Burckhardt
Bild: Renata Burckhardt

Zum Glück sind mittlerweile viele Jahre vergangen, Disziplinen werden nicht mehr bemüht voneinander abgegrenzt. Grenzen zu überwinden, Schwellen zu bespielen, sich im Dazwischen zu bewegen, im «Sowohl-als-auch», im «Hier-und-Anderswo» ist zu schön, um es nicht zu praktizieren. Bei all meinen Tätigkeiten aber interessiert mich vorrangig und letztlich: der Raum. Wie wird er genutzt? Wie wird er erzählt? Wie wird er verteilt? Wie wird er bespielt? Wo ist er eine Überforderung? Was macht er mit uns? Wo ist er schlecht organisiert? Wo wird er zur Belastung? Wann ist er nur Status? Wo bleibt er sinnentleert? Wo essen Raum Seele auf? Wann wird er schön? Kann man Raum be-sitzen, wenn man ihn kaum be-wohnt? Fragen, die politisch, soziologisch, künstlerisch, ästhetisch, erzählerisch, gesellschaftlich, visuell, theatral und musikalisch zugleich sein können. In «Lemon Tree» besingt Peter Freudenthaler den Raumwechsel in Form einer Hommage: «I’d like to change my point of view – isolation, is not good for me.» Und genial, wie Avien Lucien den Raum akustisch auslotet mit: «I am sitting in a room different from the one you are in now. I am recording the sound of my speaking voice, and I am going to play it back into the room again and again, until the resonant frequencies of the room reinforce themselves (…).»

Ob thematisch, inhaltlich oder räumlich: Räumliche Abgrenzungen sind eigentlich etwas Verrücktes. Sitze ich in einem Lokal und schaue hinaus auf einen Platz, fasziniert mich immer wieder, wie ich mich aufgrund nur weniger Zentimeter Wand nicht mehr draussen im Strassenlärm befinde, sondern behütet in einem Lokal, wie schnell ich mich abgrenzen kann von der Welt, die nur wenige Zentimeter entfernt ihren Anfang hat. Und wie schnell ich somit für alle erkennbar Gast in diesem einen Lokal bin. Der Raum definiert mich. Könnte ich die Wand beiseite schieben, würde ich sogleich einen anderen Platz in der Welt einnehmen. Eigentlich besteht die Welt ja fast nur aus Aussenraum – einer riesigen ständigen Unbekannten überall – von der wir uns abzugrenzen versuchen, um uns – eventuell – definieren zu können. Räumliche Abgrenzungen kommen mir manchmal vor wie ein Spiel. Dort bist du, hier bin ich – das ist dein, das ist mein.

Natürlich sind die Abgrenzungen ein Phänomen, ohne die die Welt nicht funktionieren würde. Ohne Abgrenzungen wären Räume nicht voneinander zu unterscheiden, und somit würden sich keine Szenerien ergeben, innerhalb derer wir unsere Rollen spielen können. Beim Übertreten einer Grenze – Tür, Wand, Vorhang, Treppenhaus, Schwelle, Gitter, Patch, Landesgrenze, Login, Fenster, Passwort, Joystick, Controller, rein in den Cinquecento, raus aus dem Cinquecento – können wir auftreten und Szenerien schaffen. Sobald wir einen Raum betreten, wird er zum Schauplatz eines lustigen oder ernsthaften Spiels. Orte bringen uns dazu, eine Rolle zu übernehmen – ob wir wollen oder nicht. Zugleich ist «an einem Ort sein» um ein Vielfaches komplexer geworden. Hallo Digitalisierung, Virtualisierung, Immersion, Simultanität, Reisewahnsinn. Hallo zunehmende Gleichzeitigkeit. Räume überlagern sich mehr und mehr. «Epoche des Simultanen»“, nannte Michel Foucault, der französische Philosoph, die heutige Gegenwart. Wo und wann spielen wir welche Rolle wie – und wie viele Rollen zugleich? Wir können unzählige Rollen spielen, reale und fiktive, wir können uns in verschiedenen Räumen gleichzeitig aufhalten, wir können gleichzeitig dort auf-treten und da ab-treten. Der Raum ist unübersichtlich geworden. Und wir verlieren hin und wieder die Orientierung.

Vielleicht deshalb lieben wir die «wilde Natur» oder «eine weite Landschaft» (beide gibt es vielleicht gar nicht oder nicht mehr) – weil wir uns in ihr auflösen können, frei werden von einem Rollenspiel. Die wunderbare Leere, die sich in einem ausbreitet, wenn man lange übers Meer gleitet oder in der Wüste ist. Zwar ist auch Landschaft eine Form von Schauspiel – dem wir aber fast unbeteiligt beiwohnen können. Glotzen und «einfach sein», ohne auf den Plan gerufen zu werden: traumhaft! Schade halt, machen wir uns Landschaft überall bis zum letzten Quadratmeter zunutze. Und machen sie so zu architektonischen Orten. Architektonische Orte aber nehmen uns in Verantwortung. Sie fordern etwas von uns ein. Sie sind von uns geschaffene Szenen und Schauplätze. In ihnen merken wir: Wir müssen uns irgendwie verhalten. Hier gibt es momentane, vergangene und zukünftige Handlungen. Und hier geschieht nicht nur jetzt gerade etwas (jemand kratzt sich am Bein, jemand isst, jemand macht einen Teller kaputt, eine Katze miaut, jemand denkt übers Abendessen nach, an der Wand sirrt eine grosse Mücke auf und ab), hier ist auch gestern, vorgestern und vorvorvorvorvorvorgestern etwas geschehen, und wird auch morgen, übermorgen und in dreizehneinhalb Jahren etwas geschehen.

Eine Szene an einem Ort steht mit endlos weiteren Szenen in Verbindung. Vielleicht hat hier vor siebenundzwanzig Jahren ein Meerschweinchen seinen letzten Atemzug getan, vielleicht hat hier ein Bewohner vor fünfzig Jahren einen riesigen Furz getan, der zur Folge hatte, dass seine Frau beschloss, ihn schleichend mit Arsen zu vergiften, was ihr auch gelang; vielleicht wird hier in vier Jahren eine hochschwangere Frau zur Tür hereinstürzen, sich dort auf den Tisch legen und alle Anwesenden werden rennen, in der Küche feuchte Tücher holen, weil sie in den alten Filmen gesehen haben, dass feuchte Tücher das A und O sein sollen beim Kindergebären. Oder vielleicht wird hier in sechzig Jahren Meryem Dogan zum ersten Mal Sauerkraut mit Wurst essen, weil sie ein uraltes Kochbuch von ihrem Ururgrossvater aufbewahrt und nun etwas daraus gekocht hat.

Wir sind mit den Handlungen, die an einem Ort geschehen, geschehen sind oder irgendwann geschehen werden, auf unheimliche Weise verbunden; mit dem sterbenden Meerschweinchen, mit dem furzenden Mann, mit einer Geburt, mit Sauerkraut. Zum Glück denken wir meistens nicht daran, zum Beispiel wenn wir uns in schönen, alten Hotelzimmern befinden. In meiner Novelle ALMA erlebt die Protagonistin die räumliche Überlagerung so: «Seit A. zurück ist, nimmt sie hin und wieder ein Bad, weil das andere tun, wenn sie sich entspannen wollen. Sie stellt ihre Füsse auf den Wannenrand, und begreift, dass ihr Vater diese hellgrünen Plättchen also jahrelang betrachtet hatte, wenn er in der Wanne lag. So finden in diesen Plättchen post mortem As Blicke mit jenen ihres Vaters zusammen und A. ist, als würde sich die Farbe der Plättchen verändern, sanfter werden, weicher auch das Material. Sie bleibt regungslos liegen, bis sich der Wasserspiegel in der Wanne glättet und aussieht wie Glas, und sie wie ein Ausstellungsobjekt in einem naturhistorischen Museum. Die Plättchen derweil bleiben ruhig an Ort und Stelle.»

Bild: Renata Burckhardt

Architektonische Orte werden für uns nur wahr, wenn wir in ihnen sind. Erst dann erfahren wir uns selber, und der Raum spannt sich auf und dehnt sich durch unsere Interaktionen aus. «Jedes leibliche Befinden ist eingebettet in eine Dimension, die zwischen Enge und Weite ausgebreitet ist», sagt Hermann Schmitz. Jede und jeder kennt die Atmosphäre, wenn ein architektonischer Ort wenig oder keine Handlung mehr erfährt; wenn man ein unbewohntes Haus betritt oder die Wohnung einer einsamen Person oder einer verstorbenen. Etwas kippt dann.

Wäre alles einfacher, bestünden wir nur aus Hirn? Teleportation, Telepathie, Telefonie? Die Überwindung des Raumes und Körpers? Aber wenn wir nur noch flüchtig, körper- und ortlos sind, werden wir schwer erzählbar. Und wir brauchen Erzählungen, sonst gibt es uns nicht. Eine Erzählung wiederum braucht einen Raum, einen Ort und einen Leib. Deswegen liebe ich Sprache zutiefst: Weil sie räumlich ist. Und weil sie uns existieren macht. Was aber tun architektonische Orte eigentlich, wenn wir nicht da sind? Brauchen sie uns, unsere Leiber? Sind sie leibbezogen? Vielleicht pfeifen sie auf uns, Material ist ja nicht tot, sondern lebt ebenso, auch ohne uns.

 

Eigentlich sind architektonische Orte wie Gewässer: Sie brauchen Durchfluss, offene Membranen. «Öppe wieder mau dürelüfte» sagt man auf Berndeutsch. Räumlich wie auch mental. Ohne ein bisschen Durchzug werden Orte energetisch abgestanden. Häufig hängen zu viele Szenen in ihnen fest. Die Szenen sind zu riechen, zu hören, zu fühlen, die Luft ist stickig. Deswegen gehe ich gerne fort.

Vor einigen Jahren habe ich ein Bild von einem kleinen mobilen Haus gesehen, das per Helikopter auf Flachdächern platziert werden kann. Seither träume ich von einem solchen Haus. Ich hätte ein Haus und doch keinen festen Wohnsitz. Eine perfekt hybride Situation, die mir entspräche, die vielleicht allen entspräche? Der urbane Traum vom Nomadischen. Der israelische Historiker und Autor Yuval Noah Harari stellt in seinem Werk «Eine kurze Geschichte der Menschheit» die These auf, dass wir uns mit dem Aufgeben des Nomadentums alle heutigen Probleme geschaffen haben. Standortkriege, Angst um Besitztum, Abhängigkeiten, Anhäufung von Material, Leistungsgesellschaft, Neid, Feindseligkeiten mit Nachbarschaften. Mensch und Raum fordert Dynamik, ein gutes Zusammenspiel zwischen Mobilität und Immobilität, zwischen dem «Fortgehen» aus einer Mitte und dem «Dahin-Zurückkehren». Durch unsere Bewegungen und Interaktionen verbinden wir Räume zu einem temporären System. Es bleibt eine ewige Dialektik: Mensch will Heimat, doch was ist sie genau? Mensch will Sicherheit, doch gibt es sie denn? Mensch will Verankerung – und bekommt dann Atemnot. Denn: keine Verankerung ohne Traditionen – keine Traditionen ohne Klaustrophobie. Das Spiel mit Räumen kann also nie enden. Wir spielen, indem wir Räume durchschreiten, besetzen, verlassen, neu einrichten, verschenken. Und indem wir Gäste einladen.

Gäste öffnen Wände, Membranen, Grenzen. Besässe ich ein Haus, würde ich als erstes das Gästezimmer einrichten. Gäste öffnen Tore zu weiteren Welten. Ein Haus, das kein Zimmer für Gäste bereithält, ist kein Zuhause. In vielen Gästezimmern aber stehen UNausgepackte Schachteln herum, UNaufgehängte Bilder, UNsortierte Zeitschriften, UNbenutzte Zelte, Teppiche oder verstaubte Bücher, und dort wird dann für Gäste eine Ecke freigeräumt, mitten im herumwirbelnden Staub, mitten in der ABstellkammer. Ein Gästezimmer aber ist keine ABstellkammer, nichts ABgewandtes, kein UN-Ort, sondern ein ZUgewandtes Zimmer und sollte das schönste Zimmer im Haus sein. Falls man unbedingt ein Haus haben will.