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1/24 – Die Stadtmacherin in Berlin.

Die Stadtmacherin in Berlin.

Im vergangenen Winter lud der Werkbund Regula Lüscher zu einem – gut besuchten – Gespräch ins Architekturforum Zürich ein. Regula Lüscher war von 2007 bis 2021 Senatsbaudirektorin von Berlin und Staatssekretärin. Sie ist Mitglied des Schweizerischen Werkbundes SWB.

Werkbrief 1/24, 26.04.2024, Text: Matthias Wyssmann / Regula Lüscher (Publikation Mathis Füssler)
Photographie: Anke Illing

Ausgangspunkt des Podiumsgesprächs war ein umfangreiches Interview, das der Moderator, Matthias Wyssmann, im Rahmen einer Arbeit am Institut Urban Landscape ZHAW in Winterthur geführt hatte. In dessen Zentrum stand die städtebauliche Entwicklung des Berliner Mauergebiets. Im Anschluss an die Veranstaltung bestand grosses Interesse an dem Interview, das wir nun an dieser Stelle veröffentlichen möchten.

Das Leitmotiv des Mauerfalls in Berlin führt zu einer ganzheitlichen und persönlichen Betrachtung der Gesellschaft und des Städtebaus. Regula Lüscher zieht ein Resümee über ihre Berliner Zeit und offenbart Denkweisen und planerische Strategien, die auf die Schweizer Situation übertragen werden können.

Wir danken Regula Lüscher und Matthias Wyssmann herzlich für ihre Genehmigung, dieses Interview zu veröffentlichen.

 

Fotografien: Michael Charpié

Matthias Wyssmann: – Die Berliner Mauer habe ich zum ersten Mal im November ’89 gesehen, als sie «fiel». – Seither ist unglaublich viel passiert, mit Berlin insgesamt, aber auch, was spezifisch die Mauer angeht. Man spricht von einem «Mauerfall», was etwas Schlagartiges suggeriert. Aber in Wirklichkeit war und ist dieser «Fall» ja ein sehr langer Prozess über nunmehr 30 Jahre. Die Hälfte davon waren Sie die oberste Städtebauerin von Berlin.
Wie stark hat die Mauer Sie in Ihrer Arbeit beschäftigt?

Regula Lüscher: – Jeden Tag. Und zwar in dem Sinn, dass die Menschen in zwei sehr unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen gelebt hatten. Das begleitete die Berliner Stadtplanung eigentlich in jedem Moment. das gilt nicht nur für die Projekte, die auf dem ehemaligen Mauerstreifen angesiedelt sind. Rückblickend muss ich sagen, dass ich als Schweizerin damals mit offenen Augen und völlig un-ideologisch an die dortige Stadtplanung herangegangen bin. Mir wurde dann aber sehr rasch bewusst, dass die Berliner:innen das Trauma dieser sehr unterschiedlichen Vergangenheiten mit sich herumtrugen. Die Architektur-Diskussion war sehr polarisiert und ideologisiert.
Im Grunde – so habe ich das wahrgenommen – hat der Westen den Osten politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich, kulturell und planerisch überrollt, sozusagen annektiert und dort missioniert. Für die Menschen im Osten muss sich das angefühlt haben, als wäre ihre Kultur ausgewischt worden. Das führte dazu, dass Diskussion um den Bestand, insbesondere im Osten, ausgesprochen schwierig waren.
Die Planungsphilosophie schien die Spuren der Mauer übertünchen zu wollen. So wurde auch die Planungskultur des Osten wenig wertgeschätzt.

MW – Hatte diese ostdeutsche Planungskultur denn auch Potential? Wir denken bei der DDR eher an «Planwirtschaft». Gab es im Osten planerisch Ressourcen und Know-how, die man für das Weiterbauen an der Stadt in die Zukunft hätte mitnehmen können?

RL – Selbstverständlich. Im Osten waren die Leute extrem gut ausgebildet. Die ganze Gender-Thematik wurde ganz anders gehandhabt. Man hatte viel mehr Frauen in Führungspositionen, vor allem auch in technischen Berufen, bei der Verkehrsplanung, beim Ingenieurwesen, in der Architektur natürlich auch. Nur schon dadurch war die Planungskultur eine andere. Die weiblicheren Seiten, wie man auf die Stadt schaut, waren ausgeprägter. Das System war zwar viel repressiver, aber die Ausbildungen waren sehr gut.
Man darf nicht vergessen: Nicht nur im Osten hat die Nachkriegsmoderne eine Schicht über die Städte gelegt. Das passierte in ganz Deutschland, und viel stärker als in der Schweiz. Weil alles zerbombt war. Und alles was nach dem Krieg kam, bildete die Nachkriegsmoderne und den modernen Städtebau. Der moderne Städtebau unterschied sich im Westen und im Osten nicht gross. Trotzdem hat die westliche Planer- und Architektengilde die Leistungen im Osten eher unterschätzt oder sogar missachtet. Natürlich vollzog sich ein ideologischer Wandel, auch mit der IBA (Internationale Bauausstellung; A.d.R.), die 1987 in Berlin stattfand. Man hinterfragte sehr rasch und stark den modernen Städtebau und berief sich auf das Leitbild der europäischen Stadt. Und dieses Leitbild bezog sich eigentlich auf die Stadt des 19. Jahrhunderts. Die europäische Moderne kam da gar nicht vor.

 

Sehnsucht nach der «Mitte»

MW – Die Mauer war eine extreme Grenze, die aus einer Stadt zwei gemacht hatte. Ich stelle mir vor, dass sich die beiden Teile bis 1989 parallel und unterschiedlich weiterentwickelt hatten. Stimmt diese Sichtweise? Entstanden da zwei separate Städte und, wenn ja, in welche Richtungen bewegten sie sich?

RL – In den ersten fünfzehn Jahren seit der Wende flossen die ganzen Ressourcen in den Ostteil der Stadt. Das war richtig, denn der Osten war am Boden. Es gab einen unglaublichen Sanierungsbedarf. Das führte dazu, dass sich der Westen irgendwann sehr benachteiligt fühlte und sich beklagte. Als ich nach Berlin kam, gab es auch im Westen einen grossen Sanierungsstau. Man muss sich vor Augen führen: Berlin hatte – und hat immer noch – rund 60 Milliarden Schulden. Es wurde unter einem extremen Spardiktat regiert. In den öffentlichen Institutionen gab es Zustände, das kann man sich hier in der Schweiz gar nicht vorstellen. Das Spardiktat galt auch für die Verwaltung. Jedes Jahr mussten zehn Prozent Personal eingespart werden. Und 2016 haben wir nochmals 25 Prozent Stellen eingespart! Da mussten wir auch 25 Prozent unserer Aufgaben streichen; wir konnten nicht mehr anders.
Natürlich hing das auch damit zusammen, dass zwei Verwaltungen zusammengeführt wurden. Man hatte jede Institution mindestens doppelt: drei Opernhäuser, zwei Zoos, drei Flughäfen u.s.w. – enorme Infrastrukturen. So war die Situation bei meiner Ankunft.
Riesige Mittel waren in den Osten geflossen, aber auch im Westen gab es brisante Themen, wie der Kudamm, von dem es hiess, er darbe vor sich hin. Aufwertungsmassnahmen wurden gefordert. Der Westen meldete sich und rief: Hallo, wir sind auch noch da und brauchen Investitionen.

MW – Was bedeutete das auf die Mauer bezogen?

RL – Die allgemeine Stimmung war so: Man war sich einig, dass die Mauerbrachen bebaut werden sollen. Es war klar, dass man die Wunde dieser Stadt heilt. Es gab nur sehr wenige Stimmen, theoretisch arbeitende Planer:innen, eher aus dem Osten, die monierten, dass man auch ein anderes Konzept verfolgen könnte. Man hätte von einer Freihaltung ausgehen können. Man hätte ein Konzept verfolgen können wie damals, als die barocken Festungsanlagen geschleift und dann speziell bebaut worden waren. – Aber die westliche Sicht auf die Teilung war die vorherrschende.

MW – Die Mauer stand letztlich nicht sehr lange. Natürlich gab es davor die Sektoren. Aber in den zirka 27 Mauerjahren, hatten sich da zwei parallele Zentren in den beiden Berlin herausbilden können? Musste man also ab 1989 ein neues Zentrum schaffen, oder ein altes Zentrum wiederauferstehen lassen?

RL – Nein. Das muss man sich anders vorstellen. Berlin ist eine explizit polyzentrale Stadt. Aus der Historie heraus, denn Grossberlin ist auch (wie z.B. das heutige Zürich; Anm. d. R.) aus Eingemeindungen entstanden. Das ist jetzt gerade 100 Jahre her. Berlin hat ganz starke Unterzentren. Die Bezirke sind sehr wichtig. Der Kiez ist sehr wichtig. Die Identifikation der Bürger mit dem Kiez als ihrer unmittelbaren Heimat ist sehr gross. Diese Polyzentralität drückt sich auch darin aus, dass man zwei (Haupt-)Zentren hat: City West und City Ost. Das hat nicht nur mit der Teilung zu tun. Natürlich hat sie das Doppelzentrum stärker hervortreten lassen. Aber historisch gesehen entspricht dies der Struktur von Berlin.
Trotzdem ist die Sehnsucht nach einer «Mitte» in den Köpfen der Berliner extrem gross. Und diese Mitte wird im historischen Entstehungsgebiet von Berlin angesiedelt, am Spreeknie, wo sich die Spree teilt, wo die beiden Handelsorte Cölln und Berlin den Ursprung der Stadt begründeten. Heute ist dieser Ort des wiederaufgebauten Stadtschloss, wo die Museumsinsel liegt, das Rathausforum, Alexanderplatz, der Köllnische Park. Dort liegt das historische Zentrum, der mittelalterliche Gründungsort. Aber der ist ja spätestens durch die Nazis zu großen Teilen zerstört worden. Die Altstadt im Rücken des Schlosses war das mindere Berlin. Zur Nazizeit wurde dann durch die Enteignung jüdischer Güter und dann durch den Krieg zerstört, was noch geblieben war.
Die Sehnsucht nach diesem historischen Zentrum ist aber enorm gross. Das hat auch zu ideologischen Kämpfen geführt. Das Gebiet zwischen Schlossareal und Alexanderplatz (der ein grosses offenes Gebiet und eine DDR-Planung ist) sollte wieder in die historische Parzellierung und Kleinteilung zurückgeführt werden. Das war der Inhalt des «Planwerks Innenstadt» von Hans Stimmann, meinem Vorgänger. Als ich meine Stelle antrat wurden immer noch Kämpfe ausgetragen – und zwar heftigst – darüber wie die sogenannte historische Mitte gestaltet werden sollte.

 

Credo: Zubauen!

MW – Heute hört man viel von «Berlin Mitte». Ist das ein modernes Konstrukt?

RL – Nein, das ist ein historischer Begriff. Der Bezirk Mitte ist historisch gewachsen und schließt unter anderem den Ort des Gründungskerns der ehemaligen Doppelstadt Berlin-Cölln ein. Ich habe in den Diskussionen um diesen Ort sehr viel Energie verwendet und habe ein breit angelegten Mitwirkungsverfahren ins Leben gerufen: «Alte Mitte, neue Liebe». Ziel war, die verfeindeten Parteien an einen Tisch zu bringen, aber vor allem auch Dritte an der Diskussion zu beteiligen, um Gräben aufzubrechen. Mein Vorgänger schrieb jeden Monat einen ganzseitigen Artikel darüber, dass der Stadtgrundriss dieses alten Zentrums rekonstruiert werden müsse. Ich sah das etwas anders und organisierte den bereits erwähnten Beteiligungsprozess, damit alle Beteiligten nochmals ergebnisoffen diskutieren konnten, was mit diesem Ort passieren sollte. Wir haben erreicht, dass vielfältige Zielgruppen und nicht nur Fachleute und Ideologen, darüber diskutieren.

MW – Hat sich die ganze Stadt dafür interessiert, oder nur die Menschen, die in diesen Gebieten lebten?

RL – Das Interesse war freilich grösser bei Leuten, die in Berlin Mitte lebten. Aber wir haben den Prozess so gestaltet, dass wir aus allen zwölf Bezirken Beteiligte hatten. Es würde zu weit führen, hier ins Detail zu gehen, aber es war ein sehr komplexer und erfolgreicher Prozess. Es ist uns gelungen viele neue Zielgruppen zu erreichen. Wir hatten auch Formate, bei denen wir Besucher:innen, Tourist:innen einbezogen. Wir haben partizipatives Theater gespielt. Wir haben partizipative Begehungen angeboten. Wir gingen raus aus den Werkstätten, wir waren im Internet sehr aktiv. Wir haben Tausende von Leuten beteiligt.

MW – Um den ersten Teil unseres Gesprächs zusammenzufassen: Wir haben zwei Phänomene, einerseits die polyzentrische Stadt, die eine gute Voraussetzung dafür war, kein ursprüngliches Zentrum rekonstruieren zu müssen; andererseits ist da die Sehnsucht nach eben einer solchen Mitte, die es zu rekonstruieren gälte – im Sinne eines «urbanistischen Historizismus’»?

RL – Dem könnte man durchaus so sagen. Die Rekonstruktion als Mittel zur Sichtbarmachung der Geschichte ist in Deutschland ausgesprochen ausgeprägt, und in Berlin ganz besonders.
Hingegen die Strategie, Archäologie zur Sichtbarmachung von Geschichte zu nutzen, war in Berlin wenig entwickelt. Das habe ich eingebracht. Wenn alles zerstört ist, dann müssen doch wenigstens die archäologischen Funde zugänglich gemacht werden, wenn die Sehnsucht nach der Geschichte so stark ist, was ja nachvollziehbar ist. Ich habe deshalb vertreten, dass man sich an den Originalen orientiert und diese in situ inszeniert. Rekonstruktionen hingegen sind aus meiner Sicht eine Geschichtsfälschung. Aber der Umgang mit Geschichte ist in Deutschland ein ganz anderer. Und ich selbst musste lernen, dass die Rekonstruktion zur Sichtbarmachung von Geschichte in Deutschland einen anderen Stellenwert haben muss, weil so viel zerstört wurde. Man hat kaum mehr Leitbauten. Es ist ganz schwer, sich im urbanen Raum überhaupt zu orientieren.

MW – Die Mauer hätte das Zeug zu einer solchen Orientierungshilfe. Sie ist stellenweise erhalten und andernorts zurückgebaut worden. Was waren die Kriterien dafür, einen Abschnitt zu erhalten oder freizugeben?

RL – Am Anfang, nach dem Fall, war klar: Die Mauer wird geschleift. Weg damit! Niemand wollte das noch sehen. Es herrschte eine Aufbruchsstimmung. Man wollte das Ding loswerden. Die Leute hatten logischerweise ja auch gar keine historische Distanz. Es gab ganz wenige Rufer in der Wüste, die sagten: Stopp, stopp! Wir müssen doch wenigstens an diese einmalige Geschichte erinnern. Wir müssen zum Beispiel der Opfer gedenken. Die Mauer hat ja auch hunderte von Todesopfern gefordert und unendliches Leid verursacht. Jede Familie hat ihre eigene Geschichte mit dieser Mauer, mit der Teilung, mit der Stasi. Das ist im Alltag, in der Biografie der Hälfte der Berlinerinnen und Berliner. Und da gab es einige Rufer, die forderten, dass wenigstens an einigen Stellen die Mauer erhalten bleibe. Dann kam es zur Gedenkstätte an der Bernauerstrasse. Das verdanken wir einigen wenigen Historikerinnen und Historikern.
Ansonsten war das Credo: Zubauen!
Man hatte nach der Wende die Vorstellung, dass Berlin in kürzester Zeit von ca. 3,5 auf 5 Millionen Einwohner:innen anwuchs. Man stellte riesige Entwicklungsgebiete auf die Beine. Man stellte Infrastrukturen in Milliardenhöhe bereit – was wiederum ein Grund ist, warum Berlin so verschuldet ist. Denn die Grundstücke wurden gar nicht entwickelt. Es kam gar niemand… Das Gegenteil ist passiert. Berlin stagnierte. Berlin schrumpfte vorerst einmal. (Bevölkerung 2023: 3.8 Mio.; A.d.R.)

MW – Das Mauergebiet ist eine gigantische Fläche. Die Todeszonen erstreckten sich zuweilen über grosse Distanzen. Wen man diese Flächen schon freigab, wurden sie gleichzeitig als Chance wahrgenommen, die gespaltene Stadt zu reparieren, indem man etwas Neues schuf? Oder sah man einfach eine Goldgrube, einfach die Immobilie?

RL – Es ist sicher diskutiert worden. Ich war damals noch nicht in Berlin, aber verfolgte – wie viele in der Profession – die Entwicklung, insbesondere auch um das Planwerk Innenstadt und dem Thema einer «kritischen Rekonstruktion». Das war der Leitgedanke des Wiederaufbaus nach der Teilung. Dies war, wie ich schon sagte, stark geprägt von westlich geschulten Stadtplaner:innen. Es gab aber auch grosse öffentliche Diskussionen, das sogenannte «Stadtforum» unter dem damaligen Senator für Stadtentwicklung, Volker Hassemer. Da wurde schon sehr offen und kontrovers über Stadtentwicklung diskutiert. Man wollte ein Zukunftsbild von Berlin entwickeln. In diesem Kontext gab es jene Stimmen, die sagten, es braucht auch andere Strategien, der Sichtbarmachung, vielleicht auch der Versöhnung, indem man die unterschiedlichen Architekturstile verknüpft und dadurch etwas Drittes, Neues gestaltet. – Hans Stimmann mit seiner Senatsverwaltung, aber auch unterstützt von prägenden Figuren wie Hans Kollhoff und anderen Architekten, hat sich dann für das Planwerk Innenstadt entschieden. Das war ein Schwarzplan, der alle historischen Strassen rekonstruiert – natürlich mit einer zeitgemässen Architektur.
Was ich problematisch fand, war, erstens, dass man jüngere Spuren verwischen wollte, und, zweitens, dass man das historische Strassennetz zwar rekonstruieren wollte – ganz nach Aldo Rossi, was ich aus theoretischer Warte gut nachvollziehen kann. Gleichzeitig wollte man aber enorm verdichten. Die Friedrichsstrasse ist nun einfach drei Geschosse höher als die historische Bebauung. Das führt zu einer ganz anderen Körnung als der historischen und zu viel engeren Strassenräumen, mit einem völlig anderen Raumgefühl.
Zum Zweiten hat man offene Bebauungen aus der Moderne, meistens im Osten, so ergänzt, indem man neue Gebäude einfach dazugestellt hat, der Blockrandphilosphie folgend – womit gewisse Häuser plötzlich im Hinterhof standen. Dadurch ergaben sich seltsame Situationen, die nicht nachvollziehbar sind. Das führte zu einer Konfrontation der zwei städtebaulichen Haltungen, statt zu einer Versöhnung.

MW – Statt zu einer Synthese.

RL – Genau, statt zu einer Synthese?

 

«Planwerk Innenstadt»

MW – Die Mauer hatte allein im städtischen Gebiet über neunzig Strassen durchtrennt. Da war also auch die Idee, dass man sie wieder herstellte, gleichzeitig aber verdichtete. Machte das überhaupt Sinn, diese Strassen wieder zu verbinden?

RL – Ja, das machte schon Sinn. Diese Wunde war ja eine tiefe Schneise. Strassen führten einfach an die Mauer. Dass man das ursprüngliche System wieder aufgenommen hat, ist sehr gut nachvollziehbar. Es hat auch dazu beigetragen, dass die Stadt wieder schnell funktionieren konnte. Es musste ja schnell gehen. Man hat auch alle U- und S-Bahnen wieder reaktiviert und zusammengeführt. Das war richtig. Der alte Hobrecht-Plan der Stadt Berlin war im Grunde nichts weiter als ein Ingenieurplan, der Strassen, Kanalisationen vorgab. Auch die historische Parzellierung wäre ja eigentlich das Gedächtnis und die Grundstruktur der Stadt. Theoretisch ist das völlig richtig und nachvollziehbar. Aber es fehlte an einem reflektierten Umgang mit dem Instrument: darüber, was es am Schluss in 3D bedeutet.

MW – Reden wir von den Freiräumen. Der Mauerstreifen war und wäre ja auch eine Chance, Freiräume zu schaffen, oder zumindest wieder herzustellen. Vor allem auch im Kleinräumigen, abseits von Mauerpark etc. Wurde die Chance wahrgenommen?

RL – Man muss sich zuerst überlegen, was eigentlich zuerst in den Köpfen, und erst dann was in der tatsächlichen räumlichen Entwicklung passiert ist.
Das Planwerk Innenstadt, dieser Schwarzplan, hat ja, wie gesagt, parzellengenau die Bebauung festgelegt. Eigentlich irre.

MW – Da gab es keine Testplanungen oder Ähnliches? Ist der Plan auf dem Reissbrett entstanden?

RL – Da gab es stellenweise schon Testplanungen. Es gab Workshop-Verfahren. Aber letztlich entstand der Plan auf dem Reissbrett. Vor allem hat man einfach in die alten Pläne geschaut und das nachgezeichnet. So ist das passiert. So ungefähr muss man sich das vorstellen. Das entsprach aber gar nicht der Realität. Weil, erstens, in der Anfangszeit herrschte tatsächlich Goldgräberstimmung. Da kamen Investoren, und Berlin ist überflutet worden. Da musste die Stadtentwicklung irgendwie sich wehren und ein Konzept haben, wie man mit diesen Investoren umgeht. Insofern war dieses Konzept der kritischen Rekonstruktion praktisch: Man musste einfach in die alten Pläne gucken und wusste, wie man an einer Stelle bauen konnte. Das war sehr effizient. Auch Stillmanns Konzept der Trauflinie.

MW – Trauflinie? Da bin ich gerade etwas überfragt.

RL – Die durchgehende Dachkante, wo das Dach auf die senkrechte Wand trifft. In Berlin ist die Traufhöhe h-e-i-l-i-g. Die muss eingehalten werden. Man kann Stockwerke draufsetzen, aber zurückversetzt. Da waren einfache Konzepte, die man jedem Investor in die Hand drücken konnte, noch mit der Auflage einer steinernen Architektur, und sagen: Und nun mache!
Das war schon ein sehr gutes Mittel, dem ersten Entwicklungsdruck etwas entgegenzusetzen.

MW – Es entstand kein planerisches Vakuum.

RL – Man weckte keine Erwartungen nach Hochhaus-City etc., sondern sendete das Signal aus: Wir wollen eigentlich unsere Stadt rekonstruieren. Einmal mehr nachvollziehbar.
Und nun zu den Freiräumen – und zum Wachstum, das in den ersten fünf bis zehn Jahren stattfand. Da wurde viel gebaut, wie das ganze Regierungsviertel. Berlin wurde umgepflügt. Dann aber kam eine Stagnation. Und Berlin hatte nach wie vor endlos Freiräume, Industrie-Brachen, Mauer-Brachen. Das hat zu den berühmten Zwischennutzungen einer freien Szene geführt, die sich einfach so Grundstücke und Häuser nimmt und daraus etwas Kreatives macht, zu dem kreativen Berlin. Das war sehr stark diesen Brachen geschuldet.

 

Parks zum Ausgleich

MW – Das also war der Magnet. In der Schweiz hatte man damals den Eindruck, alles geht auf dieses Berlin. Das, was Barcelona in den 80ern war.

RL – Man konnte sehr günstig wohnen. Es gab endlos Freiräume in Gebäuden, aber auch im öffentlichen Raum. Das zog Junge an, Künstler:innen, all jene, die gerade so am Existenzminimum entlangschleifen, gut ausgebildete Leute, die kamen alle nach Berlin… In wirtschaftlicher Hinsicht aber ist Berlin gar nicht gewachsen. Die letzten grossen Firmen sind auch noch abgewandert. Die Idee, dass plötzlich die ganze Bankenszene von Frankfurt nach Berlin kam – schlichter Wahnsinn. Die Industrie kam auch nicht. Die Ostindustrie war zusammengebrochen. West-Berlin bekam auch keine Subventionen mehr. West-Berlin hatte früher von Subventionen gelebt, der Unternehmergeist wurde nicht sonderlich gefördert. Aber im Kleinen, aus den Pionier- und Zwischennutzungen ist auch eine sehr interessante Planer- und Architektenszene entstanden. Aus der Besetzerszene wurden Baugruppen, die dann Grundstücke übernahmen und entwickelten, indem sie sich zusammentaten und durchaus auch gute Architektur produzierten.
Was nun die Freiräume angeht, so ist das in Berlin DAS Wort. Man hat Freiraum in Berlin, geistigen, aber auch physischen. Und so finde ich, dass das Interessanteste, was aus dieser Wendezeit heraus entstanden ist, das sind tatsächlich die Parks. Wahrscheinlich, weil sie sich nicht in jene konservative Rekonstruktionsphilosophie einordnen mussten.

MW – Das wären dann die weissen Flächen auf dem Schwarzplan.

RL – Ja, genau. Und dann gibt es in Deutschland – wie auch in der Schweiz – das Prinzip der Ausgleichsflächen. Wenn man verdichtet, muss man für einen Ausgleich sorgen, Naturraum schaffen, nach einem genau festgelegten Koeffizienten.

MW – Auch in der Distanz?

RL – In der Menge und in der Distanz. Wobei letzteres langsam aufgeweicht wird. Man kann noch nicht nach Brandenburg, um Ausgleichsflächen zu schaffen, aber das wird wahrscheinlich kommen, denn auch Berlin wächst, und es gibt immer weniger Ausgleichsflächen.
Nehmen wir die Überbauung des Potsdamer Platzes, der heute Hochhausgebiet ist, was er vor der Wende nicht war: der ganze Gleispark (Park am Gleisdreieck, ehem. Güterbahnhof Potsdamer Platz), der einer der tollsten Parks in Europa ist, meiner Meinung nach, das ist eine Ausgleichsmassahme aus dem Projekt Potsdamer Platz.
Aus der Bebauung des Mauerstreifens sind schon neue Strukturen entstanden. Aber es ging nicht darum den Mauerverlauf sichtbar zu machen. Das hätte man ja auch machen können: das Mauergebiet als grünen Streifen durch die Stadt weiterbestehen zu lassen. Das war nicht die Idee. Aber es sind grosse Parks angelegt worden. Der Gleispark, der Mauerpark, das Südgelände, um nur einige wenige zu nennen. Man hat neue Dinge ausprobiert, auch mittels Partizipation. Da gibt es sehr gute Landschaftsgestaltungen. Das ist ein grosser Gewinn für Berlin.

 

Kampf um jeden Baum

MW – Und im Kleinen? Es wurden Strassen wiederhergestellt, es wurde verdichtet. Da könnte man sich vorstellen, dass im unmittelbaren Umfeld auch kleine Freiräume geschaffen werden, wie Pocket-Parks. Passierte das?

RL – Das passierte eher «wild». Es ist einfach passiert. Weil zum Beispiel Grundeigentümer nicht eruiert werden konnten. In der DDR waren diese Flächen öffentliches Eigentum, denn Privateigentum gab es ja nicht. Dann fiel die Mauer, kam die Wende, und es stellte sich – gerade in der Mitte – die Frage der Restitution von jüdischem Eigentum. Das musste auf jedem Grundstück geklärt werden. Deshalb gibt es bis heute relativ viele Brachen, auch an prominenter Lage, weil oft die Grundstücksfragen kompliziert sind.

MW – «Nachrichtenlose Grundstücke» würde man als Schweizer vielleicht sagen.

RL – Ja genau, so könnte man das nennen.
Freiräume entstanden (oder blieben) also nicht durch bewusste Planung. Heute aber durch den Klimawandel, durch zunehmende Sensibilität hinsichtlich Hitzeminderung (in Berlin wird es im Sommer wahnsinnig heiss), ist das zu einem grösseren Thema geworden. Gerade im Osten, zum Beispiel am Alexanderplatz, gibt es mitten in der Stadt grosse Siedlungen im offenen Städtebau mit viel Freiflächen. Und in Berlin wird um jeden Quadratmeter Freifläche gekämpft. Um jeden Baum. Das hat auch im Westen Tradition. Westberlin war innerhalb seiner Mauern gefangen und musste sich seine Freiräume schaffen. Auch die grüne alternative Szene war in Westberlin sehr früh sehr stark. Man ging nach Westberlin, weil man nicht ins Militär wollte oder weil man eine freie Lebensform suchte.

MW – Ich habe diesen Groove 1989 noch erlebt.

RL – Dieser Groove ist immer noch da. Er ist auch die Grundlage für die vielen Beteiligungsverfahren, die man in Berlin hat. Bürgerbeteiligung ist ein sehr wichtiges Thema in Berlin.
Kurz: Grundstücke bewusst auszusparen, um diese Gebiete zu durchgrünen, war nicht Teil des Planwerks Innenstadt. Das war wohl einer der Gründe, warum es so wahnsinnige Widerstände gegeben hat. Die Bevölkerung im Osten hat diese Grünräume genossen, waren daran gewöhnt, denn sie sind in diesen Siedlungen aufgewachsen. Das ist ihre Heimat. Das negierte die Berliner Stadtplanung nach der Wende lange.

 

Fünfzig Prozent!

MW – Es herrschte quasi der Luxus, dass es Freiräume in solchem Überfluss gab, dass man sich nicht darum kümmern musste… Heute, wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat sich das geändert. Es gibt einen Verdichtungsdruck, und man muss sorgfältig mit diesen Flächen umgehen, auch aus ökologischen Gründen und kleinräumiger, um das lokale Stadtklima zu verbessern.
Spielt auch die Gentrifizierung in dem ganzen Prozess eine Rolle?
Ich könnte mir vorstellen, dass entlang der Mauer Randlagen entstanden waren, die plötzlich wieder in den Fokus rückten. Zusammen mit der Pionier- und Kreativszene hat man da wunderbare Ingredienzien für eine solche Entwicklung.

RL – Ja, natürlich. Ich würde sagen, Gentrifizierung wird wahrscheinlich nirgends so heftig diskutiert wie in Berlin. Wegen diesen Freiräumen. Aber auch, weil die Bevölkerung so arm ist. Fünfzig Prozent der Berliner hätten eigentlich Anrecht auf vergünstigte Wohnungen. Fünfzig Prozent.

MW – Fünfzig Prozent?!

RL – Fünfzig Prozent. Es ist eine arme Bevölkerung. Prekarität reicht in alle Bildungsschichten. Berlin hat eine grosse Szene von Leuten, die wenig verdienen, die Kunst machen, die forschen, die Start-ups lancieren, eine Szene, die auf billigen Arbeits- und Wohnraum angewiesen ist. Das macht das Einzigartige von Berlin aus. Durch die Gentrifizierung, durch das heutige Wachstum und durch die internationale Immobilienwirtschaft, die Städte ganz einfach kaputtmacht, seit 2008, seit der ganze Run nur noch in Richtung Immobilien geht. In Berlin ist die Immobilienwirtschaft ausgesprochen international. Da ist die Szene ganz eine andere als hier in der Schweiz.

MW – Geht es da um Spekulation? Oder wird tatsächlich auch Geld mit realen Mehrwerten verdient?

RL – Da geht es nur um Spekulation.

MW – Die Nachfrage ist also nicht so, dass jede Luxuswohnung einen Mieter findet?

RL – Die Nachfrage hat sich sehr entwickelt. Aber die Nachfrage ist beim günstigen Wohnraum gross. Berlin wächst wieder, und Berlin muss Wohnungen bauen ohne Ende, aber bezahlbaren Wohnraum. Auch Luxuswohnungen werden gebaut. Es gibt Reiche aus Russland, den Golfstaaten und von wo auch immer, die in Berlin ihre Zweit- oder Fünftwohnungen haben. Die stehen einfach leer, Betongold, wie man auf Gutdeutsch sagt. Das trägt zur Gentrifizierung bei. Außerdem, weil die Grundstücke im europäischen Vergleich lange sehr günstig waren, wurden Spekulanten angezogen, da große Gewinnmarchen lockten.

 

Dilemma Tempelhof

MW – Menschen mit grosszügigen Wohnansprüchen, die grosse, moderne Wohnungen suchen, haben andere Ansprüche an öffentlichen Freiraum als Menschen in beengten Wohnverhältnissen. Diese verlagern einen Teil ihrer Aktivitäten in den öffentlichen Freiraum. Ist das in Berlin auch so? Ist da ein grosses Bedürfnis?

RL – Das ist eine gute Frage. Auch das müssen wir in der Entwicklung sehen. Dadurch, dass Berlin nach der Wende so günstig war und so günstige Mieten hatte, haben alle in riesigen Wohnungen gewohnt. Raum war kein Luxus. Vor der Wende, im Westen, gab es aber auch Zeiten, in denen Berlin wuchs, verdichtet wurde mit Wohnungsbauten ohne Ende. Aus dieser Zeit und aus dem Westen kommt diese Bereitschaft, um jedes Stückchen Freiraum zu kämpfen, um jeden Baum. Das bewegt sich in Wellen. Und nach der Wende hatte es Raum genug. Ausserdem sind wir nicht in einer südlichen Gesellschaft, wir sind nicht in Barcelona. Berlin ist preussisch. Das ist keine Mentalität, wo man alles im öffentlichen Raum macht. Das verändert sich allerdings durch all die jungen Leute, die sich im öffentlichen Raum ganz anders bewegen.
Heute, mit diesem Wachstum, haben wir endlose Diskussionen um den Freiraum. Angefangen bei den Schrebergärten, die in Berlin ein riesiges Thema sind, auch ein politisches Thema: Do not touch – sonst bist du politisch tot. Gleichzeitig aber mussten wir in der Senatsverwaltung einen Plan entwickeln, wie man in dieser Stadt 200’000 neue Wohnungen baut, und auf welchen Grundstücken, bis 2030! Da haben wir auch Schrebergärten-Gebiete einbezogen, in unserer Not, weil es mittlerweile eine gewisse Platznot gibt.
Das zweite Thema ist die Nachverdichtung im Bestand: ganz, ganz schwierig, obwohl man das Gefühl hat, es gebe noch sehr viele Freiflächen. Aber es wird an den Freiräumen in den Siedlungen festgehalten, so wie er einst geplant worden war. Die Bewohner sind der Meinung, der stehe ihnen zu.
Ein drittes Thema ist, etwas symbolhaft, der Kampf ums Tempelhofer Feld. Hier hat sich der Kampf um Freiraum, um Freiheit, um den freien Berliner Himmel am meisten gezeigt. Eigentlich hätte es eine Blockrandbebauung geben sollen. Dann gab es eine Volksabstimmung, ob der Flughafen bleibt. Dann gab es eine – erfolgreiche – Volksabstimmung, dass es keine Bebauung der Ränder geben soll. Nun durfte man nicht einmal eine Parkgestaltung machen. Dafür hatte es einen Wettbewerb gegeben, aus dem ein wunderschöner Park hervorgegangen wäre. Aber das Areal muss bleiben, wie es ist.

MW – Der ehemalige Flughafen ist nun einfach eine gigantische Brache?

RL – Genau. Das Feld ist offen zugänglich und ein unglaublicher Ort. Da wird ge-skatet und ge-kitet.

MW – Wird es bebaut im «landwirtschaftlichen» oder «gärtnerischen» Sinn?

RL – Selbstverständlich. Als wir mit der Entwicklung des Gebietes begannen, wollte ich, dass spätere Nutzungen bereits als Pioniernutzungen angelegt werden. Eine davon war Urban Gardening. Es gab eine Ausschreibung, auf die man sich bewerben konnte, um für eine gewisse Zeit ein Grundstück zu bekommen, das man dann bepflanzen konnte. Das waren dann meistens Vereine, Initiativen. Nach einer Weile gab es Neuausschreibungen, damit nicht immer dieselben Leute auf diesen Arealen sitzen.

MW – Eigentlich eine gigantische Version der Zürcher Hardturm-Brache, oder?

RL – Ja, tatsächlich. Nur darf das Tempelhofer Feld nicht bebaut werden. Das ist Gesetz.

 

Vision «Netzstadt»

MW – Sie haben gesagt, dass vor hundert Jahren die grosse Eingemeindung stattfand. Das war ein etwas ähnlicher Zeitpunkt wie die Eingemeindung in Zürich, die ja zwischen 1893 und 1934 stattgefunden hat. Meine Theorie ist, dass Zürich dadurch eine fast ländliche Mentalität hat, vielleicht aufgrund der dörflichen Struktur, anders als z.B. Basel oder Genf. Man hat zwar einen übergeordneten metropolitanen Anspruch, setzt im Tagesgeschäft aber immer noch fast ländliche Massstäbe an. Gibt es dazu Parallelen in Berlin?

RL – Ja, das finde ich. Das habe ich, von Zürich kommend, auch so vorgefunden. Da ist einmal diese Polyzentralität. Die ist ein enormer Vorteil beim Wachstum, aber auch bei der Nachhaltigkeit. In Berlin gibt es eine sehr ähnliche Struktur, einfach in einem ganz anderen Grössenverhältnis. Die Polyzentralität führt dazu, dass man immer noch die alten «Dorfkerne» und Subzentren hat und pflegt, denn sie sind wichtig, insbesondere in einem Wachstumsszenario. Wenn man, zum Beispiel, die Mobilität nachhaltig gestalten will. Aber auch wenn man eine grüne Stadt haben will: dann kann man hochverdichtete Gebiete haben und dazwischen offene grüne Bereiche, vielleicht landwirtschaftlich genutzt.
Wenn ich ein Zukunftsbild von Berlin, vom Metropolitangebiet Berlin-Brandenburg, malen soll, dann behaupte ich, dass diese «Netzstadt», die weit hinausreicht, ein enormes Potential entfalten könnte. Man müsste die lokalen Kerne enorm verdichten, natürlich schon durchgrünt, aber dann auch wieder dafür sorgen, dass es in unmittelbarer Nähe, in 15 oder 30 Minuten Entfernung grosse Grünräume hat. Für die Freizeitgestaltung, für die Kühlung, für urbane landwirtschaftliche Produktion. Wenn wir einfach die Städte wie gehabt verdichten und dann irgendwo draussen das grüne Umland haben, dann kommen wir irgendwann an eine Grenze. In diesen Zentren wird es immer unerträglicher zu leben, weil es zu heiss, zu trocken, zu staubig sein wird, weil das Wasser in extremen Situationen nicht ablaufen kann. Die Vorstellung eines Teppichs, der so aus «Satelliten» besteht, und dazwischen ist der Grünraum, das entspricht Berlin sehr, sehr stark. Das ist eigentlich ein sehr nachhaltiges Muster.

 

Vom Bollwerk zum Boulevard?

MW – Um auf die Mauer zurückzukommen: Dieser Streifen wäre ja dann eigentlich genau so ein Grüngürtel, auch wenn er immer wieder unterbrochen ist, oder? Ist diese Idee nie verfolgt worden?

RL – Nein. Diese Idee verfolgen wir aus der Schweiz heraus. Schon bevor ich in Berlin war, beschäftigte ich mich mit dem Berlin nach der Wende. Das war ja eine aussergewöhnliche Situation. Wir Schweizer mit unserer historischen Distanz, mit unserer Nicht-Betroffenheit, sagen: logisch, das wird freigehalten. Daraus macht man einen prägenden Raum, der uns die Geschichte der Stadt spüren lässt. In Berlin aber war das völlig anders. Das wollte man wegwischen, der Westen wollte das wegwischen.

MW – War da ein Gefühl von Schande?

RL – Ja, Schande. Die DDR war ein Unrechtsstaat, das muss man einfach sehen. Der «verklärte stadtplanerische», eher unpolitische Blick aus der Schweiz, wäre für die Berliner nicht denkbar gewesen. Man hätte damals eigentlich bereits schon dreissig Jahre Distanz haben müssen. Ich denke, jetzt gibt es eine Generation von jüngeren Planerinnen und Planern, die das völlig nachvollziehen können und anders mit der Frage umgehen würden. Ich habe mir als Senatsbaudirektorin oft gesagt: Mir kann nichts Besseres passieren als Zeit. Wenn aber der Entwicklungsdruck gross ist, passieren auch viele Fehler.

MW – Die Mauer hatte ja eine Richtung, sagen wir, Nord-Süd. Mit der Wende und indem all die unterbrochenen Strassen wieder hergestellt wurden, muss sich diese Richtung geändert haben. Man hätte das Mauergebiet ja auch für einen neuen Verkehrsstrang nutzen könne. Stand das je zur Diskussion?

RL – Nein. Das war nie ein Thema. Null. Im Gegenteil: Es ging wirklich um «Re-Connection». Man wollte diese Stummelstrassen und -wege wieder zusammenbringen. Da war ein enorm grosses Bedürfnis, wieder zusammenzukommen. Eine Strasse ist eine Grenze, und das wollte man nicht mehr.

MW – Das macht natürlich Sinn innerhalb dieses Mindsets. Früher, als die Bollwerke fielen, machte man Boulevards, Ringstrassen. Heute wären das wohl eher Schnellrouten für Velos.

RL – Hier aber war Rekonstruktion das Credo. Es ist ja auch dreissig Jahre her. Das muss man auch mal sehen. Und Deutschland ist ein Autoland. Vor dreissig Jahren dachte niemand über Velowege nach. Die Distanzen sind riesig. Deutschland hat seine Autoindustrie. Kein Thema.

 

Schweizer Mind-set

MW – Letzte Frage: Auch in der Schweiz gibt es innerstädtische Grenzen, die aufgelöst werden. Ich denke an Einhausungen oder die Erschliessung und Transformation von Industriegebieten. Kann man etwas von den Erfahrungen mit der Berliner Mauer auf hiesige Projekte, Themen übertragen?

RL – … Ich studiere… Eigentlich nicht. Es sind so andere Rahmenbedingungen. Meinen Sie Beispiele, wo man aufgrund von Schneisen Infrastrukturen in die Stadt hineinbaut?

MW – Ich dachte eher an Stadtreparatur. Wie im Fall von Zürich-Schwamendingen und seiner Einhausung.
Bei Berlin könnte man statt von Reparatur sogar schon von Heilung und Wundpflege sprechen.

RL – In Berlin, dadurch dass keine Platznot herrschte, fing die Stadt allein schon durch die Öffnung an, wieder zu atmen. Erst jetzt fängt der Kampf um den Quadratmeter an. Erst jetzt arbeitet man an einem Programm für Mehrfachnutzung und fängt an, Nutzungen zu stapeln, die ehemals eingeschossigen Einkaufs-Lidls und -EDEKAS in einen Komplex mit Wohngeschossen zu integrieren. Man fängt an, Schulen nicht immer nur so flächig zu bauen. Am Schluss verantwortete ich ein 5,5 Milliarden-Schulhaus-Programm, mit Sanierungen und dreissig neuen Schulen bis 2025. Eine Schule in Berlin umfasst 1000 bis 4000 Schüler.

MW – Sind das Gesamtschulen?

RL – Richtig. Riesige Dinger, für die es riesige Grundstücke braucht. Wir haben Typenschulen entwickelt, aber die Grundstücke dafür nicht mehr gefunden. Vor allem im innerstädtischen Bereich geht das gar nicht mehr. Da muss man jedes Mal einen Entwurf machen, der auf den städtebaulichen Kontext eingeht – was ja OK ist… Wie auch immer, die Not zu verdichten, Nutzungsmixe herzustellen, das, was in der Schweiz schon lange elaboriert, aber auch entsetzlich teuer ist, das kommt nun auch in Berlin.
Berlin ist im Grunde genommen in der Entwicklung dreissig Jahre verspätet, im Vergleich zu anderen Städten. Das ist aus meiner Sicht ein grosser Vorteil, weil in Berlin das grosse Wachstum heute in einer Zeit kommt, in der man ganz anders über Nachhaltigkeitsthemen diskutiert. Das wäre ein riesiger Vorteil für diese Stadt. Aber diese Stadt steht unter einem enormen Spardiktat. Nachdem es eine Weile lang eine gewisse Entspannung gegeben hat, sind die jüngsten Verhandlungen nach Corona wieder die reinste Katastrophe. Es wird wieder gestrichen. Das macht es in Berlin so schwierig, eine zukunftsorientierte Stadtplanung zu machen. Berlin ist enorm mit sich selbst beschäftigt. Das muss man einfach akzeptieren. Für mich verliefen diese fünfzehn Jahre [als Senatsbaudirektorin] in einem ganz anderen Mindset als ich ihn von der Schweiz gewohnt bin.

MW – Vielen Dank für dieses sehr lange Gespräch und die viele Zeit und das Wissen, dass sie hier grosszügig zur Verfügung gestellt haben.

 

 

Das Gespräch fand am 20. April 2022 am Institut Urban Landscapes der ZHAW in Winterthur statt. Es ist Teil einer Arbeit von Matthias Wyssmann im Rahmen des CAS «Stadtraum Landschaft» (Leitung: Prof. Regula Iseli, M.Sc. Anke Domschky).